Pierre Jeanneret: Die Transformation und die Einordung seines Werkes
Pierre Jeanneret (1896–1967) gehört zu den einflussreichsten, wenngleich oft unterschätzten Persönlichkeiten der modernen Architektur und des Möbeldesigns des 20. Jahrhunderts. Als Büropartner und Cousin von Le Corbusier prägte er über drei Jahrzehnte hinweg die Entwicklung der modernen Architektur mit und schuf Möbelentwürfe, die heute zu den Ikonen des Designs des 20. Jahrhunderts zählen. Sein Spätwerk in Chandigarh, die von Grund auf neu geplante Hauptstadt des indischen Bundesstaates Punjab, stellt einen Höhepunkt seines Spätwerks dar und dokumentiert eindrücklich seinen Ansatz, Modernismus mit lokalem Kontext und klimatischen Anforderungen zu verbinden.
Frühe Jahre und Ausbildung
Pierre Jeanneret wurde am 22. März 1896 in Genf geboren, in eine Familie, die bereits architektonische Traditionen pflegte. Sein Cousin Charles-Édouard Jeanneret, der sich später Le Corbusier nennen sollte, war dreizehn Jahre älter und sollte einen prägenden Einfluss auf Pierres berufliche Laufbahn ausüben. Pierre absolvierte seine Ausbildung an der École des Beaux-Arts in Genf. Im Januar 1920 verliess Jeanneret die Schweiz und zog nach Paris, wo er von 1921 bis 1922 im Büro der Gebrüder Perret arbeitete. Diese Erfahrung bei Auguste Perret, einem Pionier des Stahlbetonbaus, war prägend für seine spätere Arbeit.
1921 begann er mit Le Corbusier eine Partnerschaft, während er noch bei den Gebrüdern Perret arbeitete. 1922 gründeten sie gemeinsam ein Büro. Diese Kollaboration erwies sich als ausserordentlich fruchtbar und führte zur Realisierung einiger der bedeutendsten Bauten der klassischen Moderne. Obwohl Le Corbusier oft als alleiniger Urheber der gemeinsamen Projekte wahrgenommen wurde, war Pierre Jeanneret tatsächlich ein gleichberechtigter Partner, der sowohl konzeptionell als auch praktisch zur Ausarbeitung und Umsetzung der Entwürfe beitrug. Die beiden teilten Forschungsinteressen und gestalterische Prinzipien in einer tiefen und lebenslangen professionellen Beziehung. Gemeinsam entwickelten sie die „Fünf Punkte einer neuen Architektur“ (Cinq points de l’architecture moderne, 1927), die zu den Grundpfeilern der modernen Bewegung wurden: die Pilotis (Stützpfeiler), die Dachterrasse, der freie Grundriss, das Langfenster und die freie Fassade. In den achtzehn Jahren ihrer Partnerschaft realisierten sie zahlreiche wegweisende Projekte, die zu Ikonen der modernen Architektur wurden. Zu den herausstechenden gemeinsamen Werken der Partnerschaft zählen:
– Villa Le Lac (1923-1924) – ein Kompakthaus mit raffiniertem Interieur.
– Maisons La Roche-Jeanneret in Paris (1923-1925) – ein Meisterwerk, das durch seine «Promenade Architecturale» hervorsticht.
– Ozenfant-Haus in Paris (1922) – ein experimenteller Bautypus, der eine kompakte Wohn- und Atelierstruktur hervorbrachte.
– Pavillon L’Esprit Nouveau (1925) – Gegenentwurf zum dominierenden Art Déco, präsentiert an der Exposition Internationale des Arts Décoratifs.
– Weissenhofsiedlung Stuttgart (1927) – zwei Musterhäuser, die ihre architektonischen Prinzipien exemplarisch demonstrierten.
– Maison Cook in Boulogne-sur-Seine (1926) – innovatives Stadthaus mit der charakteristischen Pilotis-Konstruktion.
– Maison Guiette in Antwerpen (1926) – frühes Beispiel ihrer Prinzipien in Belgien
– Villa Savoye in Poissy (1928-1931) – gilt als das vollendete Manifest der modernen Architektur und als Höhepunkt ihrer puristischen Phase.
– Villa Baizeau in Tunis (1929) – zeigt die Anpassung modernistischer Prinzipien an das mediterrane Klima.
Weitere wichtige Projekte waren die Cité Frugès in Pessac bei Bordeaux (1924-1927), ein ambitioniertes Sozialwohnungsprojekt mit rund fünfzig Häusern, sowie die Fondation Suisse, ein Studentenwohnheim (1931–1933).
Ihre Aktivitäten erstreckten sich auch auf den Städtebau. Sie entwickelten visionäre Projekte wie die „Ville Contemporaine“ für drei Millionen Einwohner (1922) und den „Plan Voisin“ für Paris (1925), die kontroverse Diskussionen über die Zukunft der Stadt auslösten. 1927 nahmen sie am Wettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf teil, wo ihr Entwurf die meisten Jurystimmen erhielt, aus formalen Gründen jedoch nicht realisiert wurde.
Während Le Corbusier die theoretische Artikulation und öffentliche Präsentation der gemeinsamen Arbeit dominierte, war Pierre Jeanneret integraler Bestandteil des gesamten Entwurfs- und Realisierungsprozesses. Seine Kenntnisse in Konstruktion und Detailplanung waren ebenso entscheidend wie seine gestalterischen Beiträge. Diese Arbeitsteilung war charakteristisch für ihre Zusammenarbeit und erklärt teilweise, warum Jeannerets Beitrag lange Zeit unterschätzt wurde.
Möbeldesign und die Charlotte Perriand-Kollaboration
Ein weiterer wesentlicher Aspekt von Pierre Jeannerets Werk ist sein Beitrag zum Möbeldesign. Ab 1927 arbeitete das Büro mit der Designerin Charlotte Perriand zusammen, was zu einer Reihe ikonischer Möbelentwürfe führte. Zu den bekanntesten gehören der LC1-Sessel (Basculant), der LC2-Sessel (Grand Confort) und der LC4-Liege (Chaise Longue), die aktuell als Gemeinschaftsprojekt zwischen Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand gedeutet werden.
Diese Möbel repräsentierten eine radikale Abkehr von traditionellen Einrichtungskonzepten. Sie verwendeten moderne Materialien wie verchromten Stahlrohr. Die Möbel wurden nicht als dekorative Objekte verstanden, sondern als „équipement de l’habitation“ – als Ausstattung für das moderne Wohnen, die Komfort mit industrieller Ästhetik verbanden.
Die Zusammenarbeit mit Perriand war besonders produktiv und führte zu einer Neudefinition des modernen Möbeldesigns. Während Le Corbusier oft die konzeptionelle Richtung vorgab, waren es Jeanneret und Perriand, die die praktische Ausarbeitung und Verfeinerung der Entwürfe übernahmen. Diese Möbel wurden erstmals 1929 auf dem Salon d’Automne in Paris präsentiert und lösten Diskussionen aus. Sie markierten einen Wendepunkt im europäischen Möbeldesign und beeinflussten Generationen von Gestaltern.
Die Zeit in Grenoble und BCC (1940–1950)
Nach dem Ende der Partnerschaft mit Le Corbusier im Jahr 1940, das teilweise auf persönliche Differenzen und die veränderten Umstände des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen war, liess sich Pierre Jeanneret in Grenoble nieder. Bereits 1939 hatte er gemeinsam mit Charlotte Perriand, Jean Prouvé und dem Journalisten, Sportmanager und Unternehmer Georges Blanchon das Bureau Central de Construction (BCC) aufgebaut, ein Unternehmen, das vorgefertigte, kostengünstige und demontierbare Baukonstruktionen entwickelte.
Während des Zweiten Weltkriegs engagierte sich Jeanneret aktiv in der Résistance unter dem Decknamen „Guidondevélo“ und arbeitete mit seinen Kollegen Georges Blanchon und Jean Prouvé im Widerstand zusammen. Gleichzeitig trieb das BCC bahnbrechende Projekte im vorgefertigten Leichtbau und im Bereich demontierbarer Wohnbauten voran – Projekte, die heute als einer der prägendsten Beiträge zum französischen Nachkriegsdesign gelten. BCC wurde 1952 aufgelöst.
Das Chandigarh-Projekt ab 1951
Ein weiterer Wandel von Pierre Jeannerets Karriere sollte nach 1950 kommen. Nach der Teilung Indiens im Jahr 1947 verlor der Bundesstaat Punjab seine Hauptstadt Lahore, die nun zu Pakistan gehörte. Die indische Regierung unter Premierminister Jawaharlal Nehru beschloss, mit Chandigarh eine neue Hauptstadt zu errichten, ein Symbol für das moderne, unabhängige Indien. 1950 wurde Le Corbusier beauftragt, diese neue Stadt Chandigarh zu entwerfen. Le Corbusier holte Pierre Jeanneret für das Projekt hinzu; eine Entscheidung, die sich als entscheidend für den Erfolg des ambitionierten Vorhabens erweisen sollte.
Während Le Corbusier hauptsächlich für die Gestaltung der monumentalen Regierungsgebäude im Kapitol-Komplex verantwortlich war und nur gelegentlich nach Chandigarh reiste, übernahm Pierre Jeanneret die alltägliche Leitung des Projekts vor Ort. Von 1951 bis 1965 lebte und arbeitete er in Chandigarh und widmete sich der Umsetzung der Stadtplanung. Seine Bauten gingen mehr auf lokale Bedürfnisse und Gegebenheiten ein, und waren pragmatischer als jene von Le Corbusier. Er war für die Planung zahlreicher öffentlicher Gebäude verantwortlich, darunter Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude, sowie Wohnkomplexe. Seine Entwürfe zeichneten sich durch eine intelligente Anpassung modernistischer Prinzipien an das feuchtsubtropische Klima Nordindiens aus. Er entwickelte innovative Lösungen für Sonnenschutz, natürliche Belüftung und Hitzeableitung, die die Gebäude bewohnbarer und funktionaler gestaltete. Er entwickelte verschiedene Haustypen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Einkommensschichten, die sowohl erschwinglich als auch architektonisch komplex waren. Diese Entwürfe berücksichtigten indische Lebensgewohnheiten und familiäre Strukturen, integrierten traditionelle Elemente wie Veranden und verbanden diese stets mit modernistischen Prinzipien. Die Gebäude verwendeten lokale Materialien, insbesondere Ziegelstein und Beton, und wurden so konzipiert, dass sie von lokalen Handwerkern ausgeführt werden konnten.
Das Chandigarh-Mobiliar:
A) Experimentelle Phase
Parallel zur architektonischen Arbeit entwickelte Pierre Jeanneret ein umfangreiches Mobiliar für die öffentlichen Gebäude Chandigarhs und für spezifische Wohnbauten. Diese Möbel stellen einen eigenständigen Beitrag zum Designkanon des 20. Jahrhunderts dar. Sie unterscheiden sich von seinen vorangehenden Arbeiten, aber auch von anderen Tendenzen der regionalistischen Moderne. Die frühen Objekte, insbesondere die Sitzmöbel bis 1955 (heute als PJ-SI-011 bis PJ-SI-12 katalogisiert), zeigen eine wilde, fast kindliche Experimentierfreude. Stühle wurden aus Bambus, Seilen, Metallgerüsten, Rohrgeflecht oder Ketten konstruiert, waren demontierbar und ignorierten bewusst die ästhetischen Grundprinzipien der Moderne. Es wirkt, als hätte Jeanneret hier ein befreites Experimentierfeld geschaffen, auf dem er Dogmen, Professionalismus und die Stilvorgaben der Moderne über Bord warf.
Ein besonders prägnantes Beispiel ist der Stuhl PJ-SI-07-A, dessen Sitzfläche an Ketten von den Armlehnen hängt. Viele dieser Objekte waren einfach zu produzieren – Bambus wurde mit wenigen Seilen oder anderen improvisierten Konstruktionen zusammengeflickt. Die Möbel zeigen eine pragmatisch-architektonische Formsprache: Gerüste tragen leichte Sitz- und Rückenflächen. Der Kontrast zwischen Tragendem und Getragenem betont die konstruktive Logik und verleiht den Objekten eine rohe, fast skulpturale Qualität. Doch diese frühen Entwürfe waren oft zu fragil für den Alltag – sie blieben Prototypen, die Jeannerets ungebändigten Gestaltungswillen dokumentieren.
B) Archetypisches Design
Schnell kristallisierte sich eine einheitlichere Formensprache und -logik heraus. Damit ließ sich eine ganze Stadt mit Möbeltypen ausstatten, die lokale Handwerker mit vorhandenen Materialien umsetzen konnten. Teak- oder Sissoo-Balken, zu A-, X-, Z- oder Brückenformen zusammengefügt, bilden die Tragstruktur und die Grammatik der meisten Möbel. Westliche Formklarheit trifft auf die indische Nonchalance und lässt eine befreiende Direktheit ohne übertriebene Gestaltereien entstehen. Hat Pierre Jeanneret im Nicht-Design die höchste Form der Gestaltung erkannt – eine Gestaltung, bei der das Poetische des Alltäglichen den Vorrang vor ambitioniertem Gestaltungszwang hat? Einfache und klare Formen erschaffen eine beinahe banale Einfachheit. Wären nicht die kleinen Präzisierungen: Bestimmte Kanten werden abgerundet, Holzbalken verengen sich zum Rand, Befestigungen werden geschickt versteckt und den Proportionen wird ein besonderes Augenmerk geschenkt.
Indien war für Pierre Jeanneret eine Befreiung. Lebensnähe und deren Schönheit wurden prägender. Dieselbe Tendenz zeigt sich zeitgleich bei Le Corbusier. Archaische und primitive Möbeltypen gelangen in den Fokus. 1952 entwickelte er einen Hocker für sein Le Cabanon, der eine blosse Kiste ist und 1953 für seine Projekte in Ahmedabad einen Hocker, der aus einem Stahlrohr und einer banalen Sitzfläche bestand.
Spielen bei Pierre Jeanneret funktionale und pragmatische Aspekte beim Chandigarh-Projekt immer mit, so sollte man hier nicht von funktionalem Design sprechen. Die eigentliche Absicht besteht darin, mit alltäglichen Mitteln Wesentliches zu erschaffen. Pierre Jeanneret wie auch Le Corbusier wollten Essentielles finden, wobei das Poetische immer auch ein Bestandteil davon ist. Bei Pierre Jeanneret war es mehr pragmatisch und näher beim Menschen, bei Le Corbusier kam eine spiritualistische und visionäre Ebene hinzu.
Pierre Jeanneret kehrte 1965 nach 14 Jahren zurück in die Schweiz und verstarb am 4. Dezember 1967 in Genf.
